Bechyně, Rudolf (1881–1948), Politiker und Journalist

Bechyně Rudolf, Politiker und Journalist. Geb. Nimburg, Böhmen (Nymburk, CZ), 6. 4. 1881; gest. Praha, Tschechoslowakei (CZ), 1. 1. 1948; röm.-kath., ab 1903 konfessionslos. Sohn des Bahnbeamten Bedřich Bechyně und von Anna Bechyňová, geb. Erdtová, Vater des Unternehmers, Offiziers und Politikers Zdeněk Bechyně (geb. Proßnitz, Mähren / Prostějov, CZ, 1. 1. 1905; gest. Mariánské Lázně, CZ, 17. 4. 1974), der 1930–39 und 1945–48 das Familiengut mit moderner Molkerei in Brody bzw. Krásný Dvůr leitete, 1939 ins Exil ging, als Offizier in der tschechoslowakischen Auslandsarmee in Frankreich und dann in Großbritannien diente und als Opfer der stalinistischen Prozesse im Frühjahr 1968 den vorbereitenden Ausschuss zur Wiedergründung der tschechoslowakischen Sozialdemokratie leitete, und der Schauspielerin Jarmila Bechyňová, verheiratete Šnejdárková (geb. Proßnitz, 27. 11. 1907; gest. Praha, 18. 7. 1992), die 1928–40 und 1945–51 am Nationaltheater in Prag auftrat, ab 1933 als Filmschauspielerin wirkte, 1943-45 in NS-Haft gewesen war und nach 1951 aus politischen Gründen relegiert wurde; ab 1904 verheiratet mit Františka Hyánková (1882-1963). – B. arbeitete nach der Bürgerschule und einer Lehre zum Bauschlosser in verschiedenen böhmischen, mährischen und Wiener Maschinenfabriken. Um 1900 schloss er sich tschechischen Gewerkschaften und der Genossenschaftsbewegung an. Das Mitglied der Tschechischen National-Sozialen Partei (Česká strana národně sociální) übernahm 1903 die Redaktion des Blatts „Stráž na Hané“ in Proßnitz. 1905 wechselte er zur tschechischen Sozialdemokratie und wirkte als deren Journalist in Brünn sowie 1908/09 als Wiener Parlamentsberichterstatter für die Parteizeitungen „Rovnost“ in Brünn und „Právo lidu“ in Prag. Ab 1909 Chefredakteur der Tageszeitung „Hlas lidu“ in Proßnitz, engagierte sich B. auch kommunalpolitisch und auf Bezirksebene. Der langjährige Parteitagsdelegierte vertrat autonomistische Positionen und suchte in der mährischen Politik die Zusammenarbeit mit der tschechischen Agrarpartei. 1911 wurde er zum Reichsratsabgeordneten gewählt, der Einzug in den mährischen Landtag 1913 gelang ihm dagegen nicht. 1915 wegen Hochverrats verhaftet, wurde er nach Verurteilung und Haft zum Militärdienst verpflichtet und erkrankte an Tuberkulose. Nach Wiedereinberufung des Reichsrats 1917 exponierte sich der sozialdemokratische Abgeordnete im Gegensatz zur Parteiführung unter →Bohumír Šmeral für den tschechisch-nationalen Parteiflügel und forderte die tschechische Eigenstaatlichkeit. Seit Herbst 1918 Mitglied im tschechoslowakischen Nationalausschuss (Národní výbor československý) und in der Revolutionären Nationalversammlung in Prag, wurde er stellvertretender Vorsitzender der tschechischen sozialdemokratischen Fraktion. 1920–39 trat er als Abgeordneter der tschechoslowakischen Nationalversammlung für Sozialreformen und eine pragmatische überparteiliche sowie interethnische Zusammenarbeit in der Tschechoslowakei ein. B. war 1922–24 Minister für Schulwesen und Volkskultur, 1925/26 sowie 1932–38 Eisenbahn- und 1929–32 Ernährungsminister. Er vertrat seine Partei 1921–25 im tschechischen Parteienkoordinierungsrat Pětka und übernahm in den Kabinetten mit sozialdemokratischer Beteiligung der Jahre 1925–38 stets die Position eines stellvertretenden Ministerpräsidenten. Der populäre und humorvolle Redner und politische Pragmatiker entwickelte sich zum führenden staatstragenden sozialdemokratischen Politiker der Zwischenkriegszeit. Das langjährige Mitglied des Parteivorstands lehnte eine ideologische Programmatik ab und galt als Gegner von Gewerkschaften und Kommunistischer Partei. Am Kongress aller sozialdemokratischen Parteien der Tschechoslowakei 1928 war er ebenso maßgeblich beteiligt wie 1929 am Regierungseintritt der deutschen Sozialdemokraten und 1935 an den verschiedenen politischen und persönlichen Verhandlungen, die zur Wahl von Edvard Beneš zum Staatspräsidenten führten. B. zählte zum liberal-demokratischen „Burg-Kreis“ um →Thomas (Garrigue) Masaryk und war mit dem Journalisten und Schriftsteller Ferdinand Peroutka befreundet. Hauptberuflich war er Redaktionsmitglied der Parteizeitung „Právo lidu“ in Prag sowie 1924–38 Herausgeber der Parteizeitschrift „Nová svoboda“ und 1926–30 der Wochenschrift „Nová doba“. Um 1929 erwarb er größeren landwirtschaftlichen Grundbesitz in Westböhmen. 1938/39 schloss er sich als Abgeordneter der Nationalen Partei der Arbeit (Národní strana práce) an. Im Juli 1939 emigrierte B. über das polnische Łuck und Paris, wo er jeweils journalistisch tätig war, nach Großbritannien. In London baute er eine sozialdemokratische Parteiorganisation im Exil auf, gab 1941–45 die Exilzeitung „Nová svoboda“ heraus und gehörte nun zum linken Parteiflügel. Er stand in Opposition zur Politik von Beneš und gehörte 1940–45 dem Tschechoslowakischen Staatsrat im Exil an bzw. war 1940/41 dessen Vorsitzender. Bei Kriegsende orientierte er sich zunehmend an der Sowjetunion, zog sich aber nach seiner Rückkehr nach Prag 1945 ins Privatleben zurück und gab seine Memoiren heraus. Sein Nachlass befindet sich im Národní muzeum in Prag.

W. (s. auch Luft): Sociální demokracie a republikánská vláda, 1921; Časová otázky, socialism a církve, koaliční politika, 1925; E. Beneš, Náš boj o osvobození republiky, 1940; Pero mi zůstalo 1938–45, 2. Aufl. 1948.
L.: Rudé právo, 3., Svobodné slovo, 3., 11. 1. 1948; Adlgasser; BSČZ; Freund, 1911 (mit Bild); Heller 2/1; Luft (mit W.); Otto, Erg.Bd.; Album representantů všech oborů veřejného života československého, red. F. Sekanina, 1927, S. 895 (mit Bild S. 23); Bechyňova padesátka, ed. E. Vojnar, 1931; Československo – Biografie, ed. B. Koutník, Ser. 6, 1937; H. Klepetař, Seit 1918 ..., 1937, s. Reg.; J. Masaryk, R. B. Dělník, socialista, politik a státník, 1948; Die „Burg“. Einflußreiche politische Kräfte um Masaryk und Beneš, ed. K. Bosl, 1–2, 1973–74, s. Reg.; J. Galandauer, B. Šmeral 1–2, 1981–86, s. Reg.; V. Erban, Bězěnci a vítězové, 2. Aufl. 1983, s. Reg.; P. Vošahlíková, Československá sociální demokracie a Národní fronta, 1985, s. Reg.; D. Brandes, Großbritannien und seine osteuropäischen Alliierten 1939–43, 1988, s. Reg.; P. Heumos, in: Bohemia 34, 1993, S. 133ff.; Biographical Dictionary of European Labor Leaders, ed. A. Th. Lane, 1, 1995; Zd. Kárník, Socialisté na rozcestí. Habsburk, Masaryk či Šmeral?, 2. Aufl. 1996, s. Reg.; A. Klimek, Boj o Hrad 1–2, 1996–98, s. Reg.; Th. Weiser, Arbeiterführer in der Tschechoslowakei, 1998, s. Reg.; B. Berglund, in: Historie a vojenství, 1999, S. 380ff.; Český biografický slovník XX. století 1, 1999; Politické strany … 1861–2004, ed. J. Malíř – P. Marek, 1, 2005, s. Reg. (mit Bild); J. Noha, Socialismus jest práce. Život R. B. 1881-1948, Diss. Praha, 2006; P. Kosatík, Čeští demokraté, 2010, S. 212ff. (mit Bild); J. Tomeš, Průkopníci a pokračovatelé … 1878‒2013, 2013, S. 32 (mit Bild); M. Polášek, Revizionisté, progresivisté a tradicionalisté … 1924–38, 2013, s. Reg.; Biographical Dictionary of Central and Eastern Europe in the Twentieth Century, ed. W. Roszkowski – J. Kofman, 2015.
(R. Luft)   
Zuletzt aktualisiert: 14.12.2018  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 7 (14.12.2018)